Die Macht der Angst

Andreas H. Buchwald, 5. Oktober 2020

Angst

(frei nach einer wahren Begebenheit)

Ein freisinniger Mensch war Xaver Sanktjohanser schon immer gewesen, lange vor seiner Heirat mit der Sächsin Annegret und lange vor seinem Umzug vom Bodensee ins nahe Allgäu. Man sah es ihm von weitem schon an, ein Umstand, der für üble Nachrede und Respekt gleichzeitig sorgte, zumal seine Haartracht an einen gewissen Bob Marley erinnerte. Daran vermochten auch die drei Kinder nichts zu ändern, denen Annegret nacheinander in kurzen Abständen das Leben geschenkt hatte. Ein Mädchen und zwei Jungen waren das, und es bedurfte durchaus einiger kreativer Ideen, um die Kleinen trotz der Einkommensachterbahn der Familie – Xaver wie auch Annegret gingen selbständigen Tätigkeiten nach – ohne spürbare Entbehrungen heranwachsen zu lassen.
Da die Eltern meinten, daß gleichaltrige Gesellschaft ebenfalls ein Bedürfnis ihrer Sprößlinge sei, welches man erfüllen müsse, hielten sie es für gut, diese werktäglich in einen Kindergarten zu geben. Und das taten sie selbst dann noch, als die Zeiten merkwürdig und einigermaßen furchteinflößend wurden, weil die Obrigkeit behauptete, es sei eine Seuche ausgebrochen, die die Menschen peinigen und unzählige von ihnen hinwegraffen werde. Nun müßten sie alle Gesichtsmasken tragen, die ihnen den Atem benahmen, vornehmlich zum Einkauf und im Bus, aber auch beim Abliefern der Kinder im Kindergarten oder anderen beiläufigen Gelegenheiten.
Weder Xaver noch Annegret konnten bemerken, daß sonderlich viele Tote die Straßenränder säumten, wie es die Alten von der Pest oder anderen schweren Seuchen zu berichten wußten, und so maßen sie der ganzen Sache keine große Bedeutung bei. Trotzdem vermochten sie sich nicht von ihr zu befreien, lebten sie doch inmitten vieler verängstigter Menschen, die allen Ernstes glaubten, sie könnten der bösen Krankheit entfliehen, wenn sie gelegentlich auf einen Teil ihres Atems verzichteten.
Nicht ein einziges Mal zog Xaver eine Maske über Mund und Nase, wenn er Butter, Brot und Bier einkaufte, und seine Frau tat es ihm gleich. Und wenn er seine Kleinen in den Kindergarten brachte, kümmerte er sich noch viel weniger um die mißtrauischen Blicke, die seiner nackten Physiognomie galten.
Eine Zeit lang ging das so, ohne daß ihn jemand zur Rede gestellt hätte, obwohl er von einigen seiner Freunde haarsträubende Geschichten zu hören bekam. Beispielsweise erzählte man sich, daß hier und da Menschen, die sich ihr Recht auf freien Atem sogar ärztlich hatten bescheinigen lassen, aus Lebensmittelgeschäften, Lokalen oder Bussen hinausgeworfen wurden. Als Gefahr betrachtete man sie, als Geißel der Menschheit, so als könnten ihre tiefen Atemzüge alle die bedrohen, die zu ihrem gesundheitlichen Nachteil die flachen wählten.
Eines Tages nun kam Xaver wie gewöhnlich mit seinen Kleinen im Kindergarten an, und diese eilten ihm an der Treppe voraus. Da trat plötzlich eine Frau nahe an ihn heran, so unverhüllt wie er selbst, und machte ihn mit einer Handbewegung auf den unbekleideten Zustand seines Gesichts aufmerksam. Daraufhin schüttelte er jedoch nur verneinend den Kopf, und die Frau meinte verständnisvoll: „Ah, Sie sind Asthmatiker und haben bestimmt eine Befreiung!“
Diese eindrucksvolle Demonstration medizinischen Sachverstands verblüffte Xaver, so daß er nicht darauf antwortete. Stattdessen wandte er sich von ihr ab und stieg Stufe um Stufe die Treppe hinauf. Leider konnte er nicht verhindern, daß die Neugierige ihm nacheilte und sich an seine Seite schob, um das begonnene Gespräch keinesfalls abreißen zu lassen.Maskenbefreiung
„Es wäre doch toll und sinnvoll“, brachte sie geschwätzig vor, nachdem sie es geschafft hatte, sich so dicht neben ihm einzuordnen, daß sie sich fast schon an ihm rieb, „alle befreiten Nichtmaskenträger mit einem Ansteckschildchen zu versehen, so daß für jeden klar erkenntlich ist, wen er da vor sich hat.“
„Ja“, nickte Xaver mit sarkastischem Leuchten in den Augen, als sie oben angekommen waren. „Sie haben wirklich recht. Ich dachte selbst schon daran, mir eine Binde mit abgeändertem Judenstern1 um den Arm zu machen.“
Die Frau zuckte zusammen. Erschrocken wich sie einige Zentimeter zurück, rang nach Atem und erwiderte fast stotternd: „Das finde ich … nun wirklich krass. Es geht ja schließlich nur darum, den anderen … ihre Angst zu nehmen … und das Haus aus Schwierigkeiten rauszuhalten, weil es ja so angeordnet ist. Und wenn jeder nur machen würde, was ihm gerade einfällt, hätten wir Anarchie!“
Xaver sah sich um, und sein Blick begegnete dem einer anderen Mutter, deren Gesicht zu lächeln schien, obwohl es sich zur Hälfte hinter einer Maske verbarg.
„Sie hätten ein Kellerversteck für mich frei, nicht wahr?“, vergewisserte er sich und lächelte zurück.
Unwillkürlich nickte die Maskierte.Dreadlock-Holiday
Mit einer lässigen Kopfbewegung warf Xaver seine Rastalocken zurück.
„Sehen Sie, Verehrteste“, wandte er sich an die Frau, die ihm jenen Vorschlag gemacht hatte, „solange es noch Menschen gibt, die Kellerverstecke für Unsereinen frei haben, ist nichts verloren.“

Warum sind die Menschen so?, fragte sich Xaver auf dem Nachhauseweg. Nie hätte er geglaubt, daß sich Geschichte so leicht wiederholte, nie! Sollte es so wenige nur geben, die einigermaßen frei zu denken vermochten? Machte die Angst sie so blind? Die Angst … die Angst … die stärkste Macht in dieser Welt! Lebte es sich leichter, wenn man sich ihr ergab?
Unwillkürlich und energisch schüttelte er den Kopf. Get up, stand up, stand up for your rights, sang es in ihm. … But if you know what life is worth, you would look for yours on earth … Für das Leben, das er in sich fühlte, gab es keine Alternative.

1 Der Judenstern (Gelber Stern) war ein vom nationalsozialistischen Regime eingeführtes Zwangskennzeichen für Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten. Er bestand aus zwei überlagerten, schwarzumrandeten gelben Dreiecken, die einen handtellergroßen sechszackigen Stern nach Art eines Davidssterns bildeten. Darin befand sich die schwarze Aufschrift „Jude“, deren geschwungene Buchstaben die hebräische Schrift verhöhnen sollten. (Wikipedia)

Bildernachweis: ©carlafcastagno, ©MariaBobrova - stock.adobe.com

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