Tod den Ärtzten

A. Henry

Tod den Ärtzten

Kanonenfeuer auf die „Ärtzteschaft“. Vor mehr als 50 Jahren schrieb Walter E. Richartz ein vernichtendes Pamphlet.
Wer hätte gedacht, daß dieses Buch einmal solche Aktualität gewinnen würde? Er schreibt „Ärtzte“ durchgehend mit „tzt“ – „um ihr scharfes Wesen zu unterstreichen“. Er überführt sie zahlreicher Verbrechen, „geschlechtlicher Ausschreitungen“, einer systematischen Unterwanderung der Gesellschaft. Alles gipfelt in einem „letzten Aufruf“, einer „Anleitung zum Handeln“: „KRANKHEIT? DIE GIBT ES NICHT! SIE IST EINE ERFINDUNG DER ÄRTZTE! MIT DEN ÄRTZTEN WIRD SIE VERSCHWINDEN!“
Was wollte der Autor uns sagen? „Tod den Ärtzten“ erschien 1969 und wurde als tief schwarze Satire gewertet. Doch alles, was da gegen die „Ärtzte“ ins Feld geführt wird, basiert auf einem angehängten umfangreichen Quellenverzeichnis aus Werken der Geschichtsforschung, medizinischen Fachzeitschriften, bis hin zu „DIE ZEIT“ und „BILD“.
„Paracelsus zieht durch Europa, Landstreicher, Scharlatan – ihm folgt die Syphilis. SYPHILIS, das Mittel zur Beseitigung großer Männer! Hutten! Nietzsche! … Kopernikus führt die Pest in Polen ein … Guillotin, ARTZT und Erfinder des Fallbeils! … Wawruch verkürzt Beethovens Leben um zirka 10 Jahre!“
Daß „ÄRTZTE“ auch Mozart und Schiller vergiftet haben sollen, entnimmt er einem Buch von Mathilde Ludendorff, das in den 1930er Jahren Furore machte. Laut „DER SPIEGEL“ (24/1987) war diese Frau, Nervenärztin und zweite Gattin des berühmten deutschen Weltkriegsgenerals, seine Großmutter, der General sein Stiefgroßvater.
Walter E. Richartz, unser Autor, kam 1927 in Hamburg zur Welt und wuchs in München auf, der bürgerliche Name: Walter Erich Freiherr Karg von Bebenburg. Seinen Brotberuf übte er 18 Jahre lang im Forschungslabor eines Frankfurter Großunternehmens aus und erwarb selbst mehrere Patente, unter anderem auf das Hautpräparat Kamillosan. Ganz und gar genial und aus meiner Sicht sein eigentliches Meisterwerk ist der „Büroroman“, der sieben Jahre nach dem Ärtzte-Pamphlet entstand. Hier spiegelt sich der Alltag in einer Frankfurter Großfirma wieder, der er im Buch den Namen DRAMAG verleiht. Die gesamte Handlung vollzieht sich im Büro – wer selbst in größeren Verwaltungen gearbeitet hat, wird fast alles wiedererkennen und erstaunt sein, wie tiefgründig, hintersinnig, humorvoll der Autor den Büroalltag und seine darin agierenden Charaktere aufarbeitet. Auch der Schluß dieses Buches hat einen medizinischen Bezug: „… die Neonröhren-Flucker-Allergie kann zu besinnungsloser schäumender Rohheit führen – dann bedeutet das Zerplatzen der Neonröhre die Erlösung. Aus.“
In seiner krassen Widerschrift gegen die „Ärtzte“ nennt Richartz ein Kapitel „Wissenschaftlicher Sonderdruck: Über das sexuelle Verhalten der Ärtzte (Jugendverbot)“. Es beginnt mit dem Satz: „Wir können zeigen, daß die Ärtzte Tag und Nacht kaum an etwas anderes als an widernatürliche sexuelle Ausschreitungen denken …“ Das Gesamtwerk endet mit einem Appell an das Volk zur Beseitigung der „Ärtzte“.
Literaturkritiker stehen bis heute teils ratlos vor diesem „Mach“-Werk. Auch fragt man sich, ob ein solches Manuskript bei der Vielzahl seiner Verstöße gegen heute geltende Schreib- und Denktabus in unserer Zeit noch einen Verlag finden könnte. Zumal es aktuell ganz neu zum Denken anregt – angesichts der Omnipräsenz von Ärzten und ärztlichen Beratern in der Politik, der täglichen Gesundheitsmeldungen rund um die Uhr, der Verkündigung von Infektionszahlen und Festlegung immer neuer Kataloge lebensbeschränkender hygienischer Verhaltensvorgaben, mit denen wir seit mehr als zwei Jahren leben müssen und deren Schädlichkeit für die Gesundheit nicht offen hinterfragt werden darf, ohne totale gesellschaftliche Ächtung zu riskieren oder direkter hemmungsloser Polizeigewalt ausgeliefert zu werden.
„Tod den Ärtzten“ wurde mit einem psychedelischen Drogentrip verglichen, an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn. Offenbar war das Buch wie auch weitere seiner Werke Ausdruck für ein Leben, das von tiefen Zweifeln begleitet war – an der Sinnhaftigkeit unseres Tuns, des menschlichen und medizinischen Fortschritts, des Lebens im Büro. Richartz war außer Schriftsteller auch Übersetzer, u.a. von Lewis Carroll, Raymond Chandler, F. Scott Fitzgerald, Dashiell Hammett, Patricia Highsmith und Henry David Thoreau. Er hinterließ ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel „Ich verbrenne die Brücken …“ und erschoß sich 1980 in der Nähe seines Wohnortes Neu-Isenburg in einem Wald.

Tod den Ärzten
Walter E. Richartz
Diogenes Verlag (1969), 4., Aufl., Softcover, 187 Seiten
ISBN 978-3-257207958